Montag, 25. Dezember 2017

Neubeginn und Versöhnung

Heute ist Weihnachten, genauer gesagt der 25. Dezember 2017. Ich sitze in der Wohnung der Schwiegereltern in Nowgorod. Das ist in Russland etwa 200 Kilometer südlich von St. Petersburg. Dort habe ich mich seit 18. Dezember eingeigelt und genieße das Nichtstun gemeinsam mit dem Essen der Schwiegermama. Wie es dazu kommt? Seit dem letzen Eintrag vom 25. Juli 2015 ist einiges passiert.

Die im letzten Eintrag erwähnte Frau ist mittlerweile meine Gattin. Ja, ich habe tatsächlich geheiratet. Das war am 11. Dezember 2015, also noch im selben Jahr dieses erwähnten Eintrags.

Vera und ich an unserem Hochzeitstag
Vera und ich an unserem Hochzeitstag
Ich wäre nicht so schnell auf die Idee gekommen zu heiraten, wenngleich bei Vera nichts dagegen sprach – ganz im Gegenteil. Aber uns zwang der Staat zu dieser Maßnahme, sonst wäre sie in Gefahr gewesen, ausreisen zu müssen. Und das wäre so gar nicht in meinem Interesse gewesen. Schließlich wollte und will ich ja mit ihr zusammen sein, sie ganz in meiner Nähe haben und nicht im fernen Russland. Nun sind wir schon über zwei Jahre glücklich verheiratet und ich bin voll anerkanntes Mitglied ihrer Familie. Dieses Jahr haben wir das erste Mal alle gemeinsam Weihnachten gefeiert. In Russland ist Silvester so etwas ähnliches wie Weihnachten. Mit einer religiösen Tradition hat das nichts zu tun. Es wird auch ein Baum aufgestellt. Opa Frost kommt gemeinsam mit seiner Enkelin aus dem hohen Norden und bringt Geschenke. Wir feierten traditionell am 24. Dezember. Ihre Eltern haben eine Zeit lang in der DDR gelebt. Vera ist in dieser Zeit dort in Magdeburg zur Welt gekommen. Ihr Vater ist Uni-Professor, der dort an der Uni unterrichtet hat. Er spricht noch immer sehr gut Deutsch. Aus der Zeit in der heutigen BRD kennen sie "unsere" Form von Weihnachten und haben sie auch nach Russland mitgenommen mit all den Dekoutensilien, die noch heute die Wohnung in ein Winterwonderland verzaubern.

Was sicher auch sehr spannend aus heutiger Sicht für all jene ist, die den Blog bis hierher gelesen haben ist, wie das Leben mit meiner Mutter weiter verlaufen ist. Nachdem ich Sachwalter war habe ich beim Gericht angeregt, sie umzusiedeln. Dafür suchte ich nach einer Unterbringung in meiner Nähe in Wien. Dabei stieß ich auf die Möglichkeit der Senioren-WGs. Diese Form des Wohnen kannte ich gut aus meiner beruflichen Tätigkeit beim SOS Kinderdorf. Ich habe selbst ca. 3 Jahre in so einer Einrichtungen gearbeitet, nur haben dort Jugendliche gewohnt. Das erschien mir als geeignet und ich begann welche zu besichtigen. Welch eine Synchronizität: Wie meine Eltern damals für mich als Kind, suchte ich diesmal nach einer Unterbringung für meine Mutter. Ein Gerichtsbeschluss sah vor, dass sie in einer betreuten Wohnform untergebracht werden muss, weil sie nach wie vor als suizidgefährdet gilt. Nachdem ich dann eine WG in meiner Näher gefunden hatte, ließ ich diese meine Mutter besichtigen und stellte einen Antrag bei Gericht. Daraufhin wurden wir vorgeladen. Bis zuletzt war ich mir nicht sicher, ob meine Mutter nicht im letzten Moment vor der Richterin einen Rückzieher machen würde. Aus Erfahrung wusste ich, dass sie unberechenbar ist und immer für eine dramatische Wendung gut war, auch – oder genau dann, wenn es zu meinem Nachteil ist.

Die WG lag nämlich in Wien und kostete weit weniger als das Heim. Was die Gesamtkosten für Miete und Betreuung über den Einkommensverhältnissen meiner Mutter liegt, wird von der Stadt gefördert. Somit müssten nicht ihre Ersparnisse (und letztendlich mein Erbe) für laufende Kosten her halten. Schließlich waren das bei der Unterbringung im Heim monatlich ca. 2.000 Euro, die das Ersparte weniger wurde. Gut und schön, wäre meine Mutter dort gut betreut worden, wurde sie aber nicht, weil sie nicht in das Betreuungsprofil des Heims passte, es war nämlich ein Pflegeheim. Und als kein Pflegefall, waren die PflegerInnen nur froh, wenn sie nur das Notwendigste für meine Mutter machen mussten. Die Kosten waren aber dieselben, als wäre sie ein Pflegefall gewesen. Sie standen somit in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Aufwand. Die 2.000 Euro wurden also monatlich regelrecht verbrannt.

Es kommt noch dazu, dass das Pflegepersonal dort monatelang nicht erkannt hatte, dass sie einen Oberschenkelhalsbruch hatte. Sie war zwar nicht gestürzt, klagte aber über Schmerzen. Trotzdem sah sich niemand dazu bemüssigt, sie zu einem Arzt bringen zu lassen. Sie organisierte sich letztendlich selbst einen Transport zu einem Orthopäden ihres Vertrauens. Er erkannte sofort die Gefahr und eine Woche später wurde sie schon von ihm operiert. Leider war das genau zu der Zeit des geplanten Umzuges. Sie wurde also aus dem Spital in die WG entlassen. Man kann sich vorstellen, wie aufregend diese Zeit war, denn niemand konnte voraussehen, ob sie die Zusatzbelastung und den Umzug gleichzeitig meistern könnte. Zum Glück lief alles gut und sie fühlte sich sofort wohl in ihrem neuen Zuhause. Täglich kümmert sich dort tagsüber ein paar Stunden jemand um die Bewohner und Bewohnerinnen. Nachts ist niemand da, so rüstig muss man sein, damit man dort wohnen kann. Zumindest alleine auf die Toilette muss möglich sein.

Wer meine Mutter kennt, weiß, dass sie mir auch dort das Leben nicht immer leicht macht, aber bis heute ist sie dort und es läuft soweit alles wie erwartet. Sie hat noch immer kaum Interesse an der Welt, wenngleich sie sehr viel fern sieht und sich damit auf dem Laufenden hält. Aber sie geht nur vor die Tür, wenn es unbedingt notwendig ist. Die Gefahr besteht dabei, dass sie immer immobiler wird und letztendlich doch bald ein ein Pflegefall ist. Was auch immer passiert, ich weiß – so schwer es auch ist – in meinem eigenen Interesse ist es, meinen Frieden mit ihr und der ganzen Situation zu finden. Das führt nur darüber, ihr zu vergeben. Vergessen werde ich nie was passiert ist, und ich muss auch mit den Folge leben, aber was auch immer noch geschieht, ich werde versuchen, es im Frieden mit ihr zu erleben und so gut es geht annehmen.

Im Juli 2015 schrieb ich davon, die Geschichte meines Lebens in irgendeiner Weise nützen zu wollen. Über ein Casting für einen Film, von dem ich zufällig über Facebook erfahren hatte, lernte ich die Tochter von Vera Russwurm kennen. Draus ergab sich, dass ich mit einer Woman-Redakteurin vermittelt wurde, was in einer Story in diesem Frauenmagazin mündete. Das war im Oktober 2016. Dieselbe Story wurde dann in der Bild (ja, die Deutsche Tageszeitung Bild) nur in etwas verkürzter Form abgedruckt. Ich erhoffte mir davon, dass das Thema "Kinder von Prostituierten" in irgendeiner Form aufgegriffen wird oder Filmemacher auf mich aufmerksam werden. Aber die Stories erschienen und wie schon damals bei der Profil-Story, es geschah auch diesmal nichts, einfach gar nichts.

Der Kontakt zu Vera Russwurm führte dazu, dass ich am 10. November dieses Jahres einen 15-minütigen Auftritt in ihrer Talkshow "Das kommt in den besten Familien vor" hatte. Hier ist der Link zur Sendung: https://www.youtube.com/watch?v=yyWdOWd_pdM
Über diese Sendung wurde das Nachtcafé des SWR auf mich aufmerksam und lud mich nach Baden-Baden ein. Kurz vor dem Muttertag 2018 wurde das hier aufgezeichnet (Mein Auftritt beginnt bei 44:35): https://youtu.be/PnZhgKNGmR0?t=2672

Warum ich mir das gebe? Ich denke, die beste Art und Weise mit dem Geschehen umzugehen ist, sich dem zu stellen. Verdrängung führt nur dazu, dass die Schatten größer werden und mehr als gewünscht unbewusst Leben mitbestimmen. Raus aus der Opferrolle und hinein in die Konfrontation, bis das Erlebte einfach als Teil des Lebens angenommen werden kann. Und dafür ist mir kein Weg zu extrem, was auch immer sich als Möglichkeit bietet. Und nun zur spannendsten Neuigkeit in dem Zusammenhang: ein ehemaliger Schulkollege ist Filmemacher. Über Facebook rief er zu einem Crowdfunding einer seiner letzten Projekte auf. So kam ich wieder in Kontakt mit ihm. Ich erzählte ihm von all dem hier und schickte ihm auch den Link. Weil er mich selbst noch als Kind im Sacré Coeur in Erinnerung hat und auch aus derselben Gegend kommt, findet er die Story sehr spannend. Es gibt schon ca. 20 Stunden Videomaterial, auf dem meine Mutter ihre Sicht auf ihr Leben schildert und einen Antrag für eine Filmförderung. Wir warten noch auf Antwort, aber wenn alles gut geht, gibt es ein Filmprojekt. Eine Idee ist es, einen Zweiteiler zu machen. Der erste Teil ist das Leben meiner Mutter aus ihrer Sicht und der zweite Teil ist dann mein Leben und meine Sicht. Die Stories sind natürlich ineinander verwoben, aber die unterschiedlichen Perspektiven machen die auch so schon recht aussergewöhnliche Geschichte noch interessanter.

Beruflich bin ich noch nicht wirklich wo angekommen. Die Selbständigkeit konnte ich nicht realisieren, so wie ich das im letzten Eintrag angekündigt hatte. Zu unklar war das Ziel und die beruflichen Chancen. Nun arbeite ich schon im zweiten Startup als Projektmanager. Ich finde die Startup-Branche spannend, aber mein Herzensprojekt ist PATRON4change. Das ist eine Crowdfundingplattform, die soziales Engagement ermöglicht. Dort werden Pioniere des Wandels in inspirierenden Videos präsentiert, in denen sie von ihren Ideen oder laufenden Projekten erzählen. Über die Plattform haben sie die Möglichkeit, UnterstützerInnen für ihre Vorhaben zu finden. Über eine monatliche finanzielle Zuwendung der UnterstützerInnen entsteht ein Grundeinkommen, mit dem die Pioniere des Wandels ihre Projekte eher umsetzen können. Der Nutzen für UnterstützerInnen ist, dass sie damit soziale Verantwortung wahrnehmen und zeigen können. Außerdem bekommen sie das gute Gefühl, mit ihrem Beitrag selbst Teil der Lösung eines gesellschaftlichen Problems zu sein. Darüber hinaus stellt PATRON4change eine Beziehung zwischen Changemakern und ihren Unterstützen her, damit sie gemeinsam an den Herausforderungen unserer Zeit arbeiten können. Aus dem heraus entsteht ein Ökosystem des Wandels. Es wird schon von einem Programmierer an der Umsetzung gearbeitet, ein Prototyp ist bereits online: https://patron4change.org

Ich versuche also gerade das Problem zu lösen, mit dem ich selbst zu kämpfen habe: Um meine Lebenshaltungskosten bedienen zu können, muss ich einer Erwerbsarbeit nachgehen. Diese hält mich aber davon ab mich um jene Projekte zu kümmern, die aus meiner Sicht wesentlich mehr zum Gemeinwohl beitragen würden als mein Job. Ich denke, dass noch viele Menschen da draußen ihr Engagement nicht ausleben, weil genau dieses Problem nicht gelöst ist. Sie begeben sich somit erst gar nicht auf die Reise, ein Pionier des Wandels zu werden. Somit bleiben viele gute Ideen auf der Strecke, die einen Wandel bewirken könnten, wie wir ihn mehr den je derzeit in der Welt benötigen. Mit Sorge blicke ich nicht nur auf die globalen Entwicklungen, auch in Österreich haben wir mit der neuen Regierung einen Weg der Spaltung und Ausgrenzung eingeschlagen. Die Zivilgesellschaft ist mehr denn je gefordert dagegen zu halten.