Donnerstag, 17. Oktober 2013

Der letzte Akt, Teil 1

Im Jahr 2008 erstickte mein Ziehvater (mein genetischer Vater verstarb schon im Jahr 2000) bei einem Restaurantbesuch fast an einem Stück Fleisch. Obwohl er im selben Jahr erst ein Lungenröntgen hatte machen lassen, das ihm eine altersgemäße Lunge und einen gesunden Thorax bescheinigte, enthüllte eine anschließende Untersuchung einen Tumor nahe der Speiseröhre, der auch die Lunge betraf. Die Bestrahlungen griffen und zu Weihnachten 2008 konnte er wieder schlucken. Er rauchte schon seitdem er 16 Jahre alt war. Es gibt kaum ein Foto, das ihn ohne Zigarette zeigt. Wenn man genau hinsieht, hält er sogar auf jenem mit meiner Mutter und Hexi, das ich unterhalb des letzten Eintrages online gestellt habe, eine in der Hand. Mit den guten Vorsätzen anlässlich des Pensionseintritts schafften es meine Eltern sogar, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch dann fing meine Mutter nach zwei Jahren wieder an und er zog mit. Die Diagnose veranlasste ihn diesmal nicht, das Kunststück zu wiederholen und so schlug der Tumor nach den ersten Erfolgen im Jahr darauf zurück. Als hätte er es gewusst, genoss er solange er noch schlucken konnte das Leben in vollen Zügen – und das sah bei ihm folgendermaßen aus: Er ging jeden Tag fein gekleidet, rasiert, frisiert, parfümiert und voll mit Goldschmuck in das Stadtcafe Purkersdorf, wo er den Mann von Welt mimte, sich an den Gesprächen des Stammtisches beteiligte, Kaffee trank und dabei genussvoll rauchte. Das war seine Vorstellung vom guten Leben und er tat es solange ihm noch Zeit blieb. Am 3. November 2009, drei Tage vor seinem 72. Geburtstag, verstarb er zu Hause. Bis zuletzt meinte er, es ginge ihm nicht so schlecht, obwohl er am Schluss schon zu schwach für seine Lieblingsbeschäftigung dem Fernsehen war und nur noch Radio hörte. Er wollte keinesfalls im Spital sterben und so redete er seinen Zustand schön. Mein Mutter pflegte ihn aufopfernd und mit ihm ging ihr der Lebensinhalt abhanden. Ihr ganzes Leben, zumindest so lange ich sie kannte, beklagte sie sich darüber, immer für alle alles machen zu müssen, damit der Laden läuft und selber dabei zu kurz zu kommen.

Nachdem alles erledigt war, was nach einer Beerdigung so zu tun ist, fiel sie in ein Loch, denn nun war sie allein. Sie hatte Geld auf der Bank, viel Schmuck, ein Haus mit Garten, einen Mercedes in der Garage und Zeit, alles zu tun was ihr in den Sinn kommt. Darüber hinaus war sie erst 65 Jahre alt und ihrem Alter entsprechend halbwegs fit. Eine Situation, auf die viele Menschen hinarbeiten, viele kommen sogar niemals in diese privilegierte Lage. Sie hatte die besten Voraussetzungen, sich es noch einmal so richtig gut gehen zu lassen, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Doch sie war von ihrem Leben ausgebrannt und sah keinen Lebensinhalt für sich. Sie hatte keine Vorstellung von dem, wie man es sich gut gehen lassen kann, weil sei es davor auch nie getan hatte. Also fiel sie in eine Depression, von der sie mir nichts erzählte. Im September 2011 fragte sie mich, ob ich mit Frau und Kind bei ihr einziehen wolle. Ich winkte dankend ab. Später erzählte sie mir, dass es ab dann so richtig mit ihr bergab ging. Doch sie hielt das damals geheim, denn sie schmiedete schon einen tödlichen Plan.

An einem Wochenende im Juni 2012 war ich von Samstag auf Sonntag auf einer Hochzeit im Burgenland. Am Weg von dort nach Hause riefen mich die Gegenübernachbarn meiner Mutter an und meinten, die Rollos an ihrem Haus wären schon seit zwei Tage nicht hochgezogen worden und ich sollte nach dem Rechten sehen. Am Weg nach Purkersdorf verständigte ich auch Polizei und Rettung. Gemeinsam trafen wir ein. Ich schloss ihnen die Türen auf, blieb selbst aber draußen. Meine Mutter lag im Keller auf dem Bett neben der Sauna, wo sie früher ihre Arbeit verrichtete und war bewusstlos. In ihrer Nähe wurden leere Schlaftabletten-Packungen gefunden, was auf einen Selbstmordversuch rückschließen ließ. Sie kam nach Tulln, zuerst auf die interne Abteilung und dann auf die Psychiatrie. Sie überstand den Vorfall ganz gut und wurde dann wieder nach Hause entlassen. Die Volkshilfe wurde im Rahmen der mobilen Heimkrankenpflege damit beauftragt, jeden Tag bei ihr vorbei zu schauen. Ich holte sie ab und gemeinsam gingen wir am Weg noch einkaufen. Alles deutete darauf hin, dass sie es mit Unterstützung schaffen könnte, auch sie schien motiviert. Am darauffolgenden Montag kam die Fallmanagerin zu ihr um zu erheben, was die Heimhilfen bei den Besuchen zu tun haben. Im Zuge dessen wurde festgestellt, dass meine Mutter kaum noch Bargeld bei sich hatte. Anstatt ihr das Angebot zu machen, sie zur Bank zu führen meinte die Dame von der Volkshilfe, sie würde mit der Bankomatkarte Geld abheben fahren. Meine Mutter äußerte Bedenken, die mit folgender Aussage zerstreut wurden: „Das ist der Anfang unserer Zusammenarbeit, die auf Vertrauen basiert. Das ist die erste Gelegenheit dieses aufzubauen.“ Meine Mutter bat um 300 Euro, die ihr auch gebracht wurden. Einige Tage später fiel ihr das Besuchsprotokoll wieder in die Hänge. Beim genauen Durchlesen bemerkte sie, dass sie die Übernahme von 1.300 Euro unterschrieben hatte. Nach telefonischer Rücksprache bei der die Fallmanagerin behauptete, sie hätte 1.300 Euro übergeben, stornierte meine Mutter den Vertrag. Mir erzählte sie von dem Vorfall und ich empfahl ihr, Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen, machte aber auch klar, dass sie nichts dagegen machen konnte, denn sie hatte das Protokoll ja unterschrieben. Von der Vertragskündigung erzählte sie mir nichts. Am Freitag telefonierten wir und ich meldete mich über das Wochenende ab, denn ich war wieder auf einer Hochzeit eingeladen. 

Montagabend rief ich sie dann an, doch sie ging nicht ans Telefon. In mir regte sich der Verdacht, dass sie es wieder versucht haben könnte und ich fuhr nach Purkersdorf. Am Weg verständigte ich abermals Polizei und Rettung. Diesmal war sie nicht im Haus auffindbar, weswegen wir im Garten anfingen zu suchen. Die Suchaktion wurde schon fast als beendet erklärt, weil sie scheinbar im Garten auch nicht war, als ich in einem Eck unter einem Busch etwas entdeckte. Ich bat die Polizisten, dort genauer zu suchen. Und tatsächlich, dort lag sie. Weil sie beim ersten Mal die Tabletten im Schlaf erbrach, hatte sie sich ein Wollknäuel in dem Mund gesteckt und diesen zugeklebt. Später stellt sich heraus, dass diesmal nicht 19 Stunden nach der Einnahme vergangen waren, sondern nur fünf. Sie war zwar benommen aber noch nicht bewusstlos. Sie machte mir nur einen Vorwurf, warum ich da war, denn damit hätte sie nicht gerechnet. Wieder kam sie nach Tulln. Wer nun glaubt, viel schlimmer kann es nicht mehr kommen irrt, denn das war erst das Vorspiel zu dem, was noch folgen sollte. Doch das wird Gegenstand des nächsten Eintrages.

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