Dienstag, 8. Oktober 2013

Meine Mutter, Teil 3

Schließlich schaffte es meine Mutter in letzter Minute den hohen Geldbetrag der ersten Schuldenrückzahlungsrate fristgerecht abzuliefern und somit das Haus in ihrem Besitz zu halten. Das war ihr aber nur als Prostituierte möglich. Wie bereits erwähnt, ging es dann mit dem Eintreten des Mannes, der dann auch mein offizieller Vater war, bergauf. Nachzulesen im Eintrag „Mein Vater“ vom 4. September 2013. 

Zwei außergewöhnliche Ereignisse gab es noch, auf die ich nun eingehen will. In ihren Zwanzigern wurde sie zwei Mal ungewollt schwanger. Wahrscheinlich weil sie es damals nicht so genau nahm mit der Verhütung. Ohne Kondom zu arbeiten war zwar verpönt, aber gegen einen hohen Zuschlag wurde schon mal darüber hinweggesehen. Es gab sexuell übertragbare Krankheiten, aber noch keine wie HIV. Das wirkliche Problem damals war allerdings die Tatsache, dass Abtreibung illegal war. Sie wurde zwar allerorts durchgeführt, aber im privaten Rahmen von so genannten „Engelmacherinnen“ oder von Ärzten im Hinterzimmer ihrer Praxen. Zu einem dieser Ärzte ging auch meine Mutter. Ein Mal ging es gut. Doch beim zweiten Mal fing sie nach dem Eingriff an aus dem Schritt zu bluten. Scheinbar war diesmal nicht alles ordnungsgemäß entfernt worden. Die Blutung war sehr stark, weshalb sie schnell die Kraft verlor. Sie konnte sich nur noch auf allen Vieren zum Nachbarn ins Nebenhaus retten. Dieser rief ihren Hausarzt an. Aufgrund eines Missverständnisses war dieser dann am Weg zum Nachbarn, während dieser meine Mutter in sein Auto packte und mit ihr in die Praxis des Arztes fuhr. Dadurch verging wertvolle Zeit. Letztendlich landete sie im Krankenhaus, wo die Blutung in letzter Sekunde gestoppt werden konnte. Wegen dieses Vorfalls wurden Nachforschungen angestellt und der Arzt flog auf. Er führte ein Notizbuch mit Namen aller Frauen, bei denen er illegale Abtreibungen vorgenommen hatte. Unverständlicherweise mussten all diese Frauen für drei Monate ins Gefängnis, während der Arzt nur eine bedingte Strafe ausfasste! Unfassbar! Er war ein Serientäter, der gutes Geld damit verdiente, während die Frauen wegen eine persönlichen Notsituation hilfesuchend zu ihm kamen. Auch meine Mutter musste trotz des lebensbedrohlichen Vorfalls wegen der verpfuschten Abtreibung ihre Strafe absitzen. Erst 1974, kurz vor meiner Geburt, wurden Abtreibungen legalisiert.

Im Eintrag von 2. September erwähnte ich einen Vorfall, bei dem mein Vater auf meine Mutter schoss. Der Grund war mein leiblicher Vater Pepi Matauschek. Er war mit meiner Mutter als Kunde im Keller. Mein Vater war auch im Haus. Obwohl er von Anfang an wusste, worauf er sich eingelassen hatte und finanziell erheblich davon profitierte, kam es an diesem Tag zum Eklat. Innerlich hatte er wohl ein Arrangement gefunden: Er teilte seine Frau mit anderen Männern und das ist auch solange in Ordnung, solange sie dafür bezahlt wird und dies vor einem beruflichen Hintergrund passiert. Im konkreten Fall heißt das, sie darf es nicht genießen. Bei Pepi Matauschek war aber mehr im Spiel, nämlich Liebe. Und so kam es, dass ihre sexuelle Erregung nicht zu überhören war. Als Reaktion darauf leerte er eine Cognac-Flasche und holte eine der beiden Schusswaffen aus ihrem Versteck. Als Pepi Matauschek gegangen war, stellte er meine Mutter zur Rede. Provokant antwortete sie: „Na dann schieß doch, dann ist alles vorbei und überstanden.“ Er wollte nicht feige wirken und drückte ab. Das Projektil ging an ihr vorbei und blieb in der Wand stecken. Danach brach er volltrunken bewusstlos zusammen. Meine Mutter rief die Rettung, die ihn nach Gugging brachte. Der Vorfall wurde auch von der Polizei protokolliert. Tags darauf besuchte sie ihn. Er war im geschlossenen Bereich untergebracht und steckte in einer Zwangsjacke. Er flehte darum, wieder nach Hause zu dürfen. Die Ärzte fragten meine Mutter, welche Angehörigen er sonst noch hätte, denn für eine Entlassung müsste jemand für ihn bürgen. Zu diesem Zeitpunkt waren sie noch nicht verheiratet, weshalb sie eigentlich nicht in Frage kam. Doch seine Mutter war zu alt und ich zu jung und sonst hatte er niemanden. Dies wäre ein perfekter Zeitpunkt gewesen, sich von ihm zu trennen. Aber ihr war die Familie, oder vielleicht nur das, was davon als Schein nach außen tritt, wichtiger. Und so bürgte sie für ihn, nahm ihn mit nach Hause, holte seine Mutter aus ihrer Wohnung im 10. Bezirk und mich aus dem Internat. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch Volksschüler. Dann verbrachten wir das darauf folgende Osterwochenende gemeinsam als ob nichts geschehen wäre.

Wie schon erwähnt, machte meine Mutter eine Pause vom Straßenstrich von meiner Geburt an bis sie ca. 44 Jahre alt war. Dann stellte sie sich wieder 14 Jahre lang Ecke Hackengasse Felberstraße auf. Ihre zweite Karriere war nicht mehr so glamourös wie ihre erste. Speziell gegen Ende kamen vorwiegend Männer mit Migrationshintergrund zu ihr, die knapp bei Kassa waren und beim Preis feilschten. Damit sie nicht stundenlang stehen musste, ließ sie dann immer öfter diesbezüglich mit sich reden, speziell im Winter wenn es sehr kalt war. Ihr Auto, ein weinroter Mercedes 190E, war so umgebaut, dass sie die Kunden darin abfertigen konnte. Der Vordersitz war ausgebaut und sie mietete eigens dafür einen Parkplatz im Parkhaus am Westbahnhof, denn die meisten Kunden konnten sich kein Hotelzimmer leisten. Dieses Auto war auch jenes, mit dem ich die Praxisstunden außerhalb der Fahrschule machte (das sogenannte L) und das ich dann die erste Zeit benutzen durfte, bis ich zur Matura dann mein eigenes Auto bekam. Meine Freunde fragten sich, warum der rechte Vordersitz fehlte. Ich begründete das mit dem zusätzlichen Platz, den man beim Einkaufen bräuchte um Kisten zu transportieren und dem dafür zu kleinen Kofferraum.

Meine Mutter hatte nach meinem leiblichen Vater auch noch eine andere große Liebe. Sein Name war Erich. Sie kannten sich schon sehr lange, doch gefunkt hatte es erst, als sie um die 50 war. Offiziell war er dann als zusätzlicher Taxifahrer bei ihr angestellt und natürlich auch Kunde. Doch in diesem Fall zahlte nicht er jede Samstagnacht, sondern sie sparte das Geld heimlich weg und legte es dann als Verdienst vor, damit kein Verdacht seitens meines Vaters aufkam. Er war der einzige Kunde in dieser Nacht und kam zu uns nach Hause. Ich traf ihn immer wieder nachdem ich vom Ausgehen nach Hause kam. Das war der einzige Kunde, den ich näher kennen lernte. Er mochte mich und ich ihn. Weil sich die beiden schon vor meiner Geburt kannten, meinte meine Mutter öfters im Halbspaß, er hätte auch mein Vater werden können. Ich entgegnete dem immer, dass ich dann nicht ich wäre. Doch eines ist sicher: Ihn lernte ich besser als meinen echten Vater kennen. Er war früher ein echter Strizzi und hatte Kontakt zur Unterwelt, als er Pächter eines Kaffeehauses war, in dessen Hinterzimmer Stoß gespielt wurde. Das ist ein illegales Kartenspiel um Geld. So gesehen passten die beiden gut zusammen. Was nur hier zum Tragen kam war wieder ihre Heimlichtuerei, in die ich auch diesmal verwickelt wurde.

2002 wurde mein Vater 65, hörte mit dem Taxifahren auf und ging offiziell in Pension. Der Plan war, dass sie gemeinsam mit dem Arbeiten aufhören. Meine Mutter war sieben Jahre jünger, trotzdem war es höchste Zeit, denn die Kunden wurden immer schlechter. Mit 58 durfte sie aber von der Pensionsversicherungsanstalt aus nicht in den Ruhestand. Für eine Frühpension vor dem 60. Geburtstag fehlten ihr die Versicherungszeiten. Die Zeiten in den Heimen, in der sie harte Zwangsarbeit verrichtete, schienen nicht auf. Also wurde sie an das AMS verwiesen. Was hätte sie dort mit 58 Jahren ohne Erfahrung in einem normalen Job machen sollen? Also waren meine Eltern gezwungen, rund zwei Jahre lang von seiner kleinen Pension (knapp über 1.000 Euro) und von Gespartem zu leben.

Es gibt unzählige interessante, spannende und schockierende Geschichten, die meine Mutter aus ihrer Zeit als Prostituierte erzählen könnte. Aber das ist ein eigenes Thema, von dem ich in diesem Kontext hier nur fragmentarisch berichten könnte und schon gar nicht will. Hier geht es mir um mein Erleben mit dem, was sie mir zugemutet hat und vor welchem Hintergrund das alles geschehen ist.

Der nächste Eintrag behandelt das Ableben von ihrem langjährigen Wegbegleiter, jenem Mann, der auch  am ehesten ein Vater für mich war und der Zeit danach. Es folgt quasi der große Showdown.

Anfang 20, das erste eigene Auto, ein Gogomobil.
Haus und Garten ganz neu und frisch hergerichtet
Mitte 20 mit Hexi
28-jährig: Familienidylle noch ohne mich
Ende 70er: So habe ich ihn in Erinnerung. Mein "Vater" und sein Taxi.

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