Mit einem Stundenlohn von ein paar Schilling aus der Arbeit
in der Fabrik war es unmöglich, die 5.000 Schilling aufzutreiben. Ja,
irgendwann vielleicht. Aber Krebs kennt keine Geduld und somit beschloss meine
Mutter Geld für sexuelle Dienstleistungen zu verlangen. Auf die Idee kam sie,
als sie per Autostopp regelmäßig von Purkersdorf nach Wien und retour unterwegs
war. Die öffentlichen Verkehrsmittel nahmen damals noch keine Rücksicht auf die
Sperrstunden des Tanzlokals in Hütteldorf und somit war sie spätabends auf
diese Transportmöglichkeit angewiesen. Einmal wollte ein Mann etwas von ihr,
als er sie im Auto mitnahm. Sie verlangte Geld dafür und bekam es. Ab dann
nützte sie jede freie Minute neben der Arbeit in der Fabrik dafür, in
Purkersdorf und Umgebung an der Straße zu stehen und Geld zu verdienen.
Sie war kurz davor die 5.000 Schilling beisammen zu haben,
als sie von der Polizei aufgegriffen und vom Jugendamt wieder
fremduntergebracht wurde. Als schon aktenkundige Jugendliche kam sie diesmal in
eine Erziehungsanstalt nach Wiener Neudorf, die für ihre brutalen
Erziehungsmethoden bekannt war, die „Bundesanstalt für erziehungsbedürftige
Mädchen“, geführt von den „Schwestern vom Guten Hirten“. Neben der Anstalt
„Kaiser-Ebersdorf“ für Buben galt diese als „Endlager“ aufmüpfiger
Jugendlicher. Unter Mitwirkung des prominenten österreichischen Psychiaters
Erwin Ringel passierte dort Schreckliches mit den Mädchen. Beispielsweise
wurden sie dazu gezwungen ihr Erbrochenes wieder zu essen. Wie im Gefängnis gab
es die Älteren, die Frischankömmlinge brutal misshandelten, einfach weil es bei
ihnen auch so war. Die Nonnen sahen weg, weil sie sich bei der Einschüchterung
somit nicht selbst die Hände schmutzig machen mussten. Waren sie später noch
immer widerspenstig und ungehorsam, kamen sie in die "Korrektion". Das war ein
Verlies im Keller, wo man eine Art Einzelhaft absitzen musste. Der Raum war
kalt, dunkel und ohne Möbel. Abends wurde ein Strohsack hineingeworfen, der in
der Früh wieder abzugeben war.
Die Insassinnen mussten den ganzen Tag schwere Arbeit
leisten. So gesehen war diese Anstalt ein Zwangsarbeitslager, in dem einem die
Identität geraubt wurde. Den persönlichen Namen mussten die Mädchen beim
Eintritt abgeben genauso wie die eigene Kleidung. Stattdessen mussten sie in
die taubengraue, kratzige Anstaltskleidung schlüpfen. Unterhose gab es eine pro
Woche, die am Ende kontrolliert wurde, ob sie eh nicht schmutzig ist.
Warmwasser beim Duschen war die Ausnahme. Wenn es Besuch der Behörden gab,
wurde alles schön hergerichtet und es gab gutes Essen. Aber nur dann. Der
Alltag bestand aus Gebet, harte Arbeit und Erniedrigung mit den Worten: „Wir
können mit euch machen was wir wollen, denn euch mag draußen eh niemand, sonst
wärt ihr nicht hier.“
Als kurze Zeit später die Adoptivgroßmutter stirbt, bekommt
meine Mutter nur einen Tag Ausgang für das Begräbnis. Während ihre
Adoptivmutter oft geschäftlich zu tun hatte, war es sie, die fast immer für das
Mädchen da war. Mit 19 Jahren erreichte sie dann die Großjährigkeit und wurde
in die Freiheit entlassen. Ihrer Adoptivmutter ging es da gesundheitlich schon
sehr schlecht und das Haus war noch immer nicht fertig gebaut. Ganz im
Gegenteil, weil es nicht fertig war, wurde es schon wieder leicht baufällig.
Doch statt Geld für die Instandsetzung gab es nur Schulden. Nur vier Monate
nach der Entlassung stirbt auch die Adoptivmutter. Die Nacht nach dem Begräbnis
übernachtete meine Mutter am Friedhof neben dem Grab.
Schon bald darauf meldeten sich die Gläubiger, bei der sich
ihre Adoptivmutter Geld ausgeliehen hatte. Haus und Grund waren die einzigen
Dinge von Wert. Das Gericht entschied, dass alles verkauft werden muss, damit
die Gläubiger ihr Geld bekommen. Meine Mutter sollte dafür eine kleine Wohnung
in Wien erhalten. Ein Termin wurde auch fixiert, bis zu dem eine erste hohe
Rate fließen sollte, sonst würde die Versteigerung in die Wege geleitet. Meine
Mutter hatte ganz allein mit ihren 19 Jahren keine Möglichkeit ohne
Berufsausbildung diese hohe Summe in der kurzen Zeit aufzutreiben.
Hier gab es eine Weiche in ihrem Leben. Entweder die Chance
mit der Wohnung nützen, was bedeutet schuldenfrei ein neues Leben in Wien zu
beginnen mit einer Ausbildung zum Traumberuf Krankenschwester oder den Versuch
wagen, fristgerecht das Geld zum Gericht zu bringen. Sie entschied sich für letzteres
und ebnete damit den Weg in die Prostitution. Sie verkaufte ihre Seele für ein
Stück Land, das davor eine Müllhalde war, mit einem unfertigen Haus darauf und einem Haufen Schulden.
Meine Mutter mit 17 Jahren |
Das neu erbaute Haus, wie es im besagten Zeitraum aussah |
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