Dienstag, 24. September 2013

Meine Mutter, Teil 2

Mit einem Stundenlohn von ein paar Schilling aus der Arbeit in der Fabrik war es unmöglich, die 5.000 Schilling aufzutreiben. Ja, irgendwann vielleicht. Aber Krebs kennt keine Geduld und somit beschloss meine Mutter Geld für sexuelle Dienstleistungen zu verlangen. Auf die Idee kam sie, als sie per Autostopp regelmäßig von Purkersdorf nach Wien und retour unterwegs war. Die öffentlichen Verkehrsmittel nahmen damals noch keine Rücksicht auf die Sperrstunden des Tanzlokals in Hütteldorf und somit war sie spätabends auf diese Transportmöglichkeit angewiesen. Einmal wollte ein Mann etwas von ihr, als er sie im Auto mitnahm. Sie verlangte Geld dafür und bekam es. Ab dann nützte sie jede freie Minute neben der Arbeit in der Fabrik dafür, in Purkersdorf und Umgebung an der Straße zu stehen und Geld zu verdienen.

Sie war kurz davor die 5.000 Schilling beisammen zu haben, als sie von der Polizei aufgegriffen und vom Jugendamt wieder fremduntergebracht wurde. Als schon aktenkundige Jugendliche kam sie diesmal in eine Erziehungsanstalt nach Wiener Neudorf, die für ihre brutalen Erziehungsmethoden bekannt war, die „Bundesanstalt für erziehungsbedürftige Mädchen“, geführt von den „Schwestern vom Guten Hirten“. Neben der Anstalt „Kaiser-Ebersdorf“ für Buben galt diese als „Endlager“ aufmüpfiger Jugendlicher. Unter Mitwirkung des prominenten österreichischen Psychiaters Erwin Ringel passierte dort Schreckliches mit den Mädchen. Beispielsweise wurden sie dazu gezwungen ihr Erbrochenes wieder zu essen. Wie im Gefängnis gab es die Älteren, die Frischankömmlinge brutal misshandelten, einfach weil es bei ihnen auch so war. Die Nonnen sahen weg, weil sie sich bei der Einschüchterung somit nicht selbst die Hände schmutzig machen mussten. Waren sie später noch immer widerspenstig und ungehorsam, kamen sie in die "Korrektion". Das war ein Verlies im Keller, wo man eine Art Einzelhaft absitzen musste. Der Raum war kalt, dunkel und ohne Möbel. Abends wurde ein Strohsack hineingeworfen, der in der Früh wieder abzugeben war.

Die Insassinnen mussten den ganzen Tag schwere Arbeit leisten. So gesehen war diese Anstalt ein Zwangsarbeitslager, in dem einem die Identität geraubt wurde. Den persönlichen Namen mussten die Mädchen beim Eintritt abgeben genauso wie die eigene Kleidung. Stattdessen mussten sie in die taubengraue, kratzige Anstaltskleidung schlüpfen. Unterhose gab es eine pro Woche, die am Ende kontrolliert wurde, ob sie eh nicht schmutzig ist. Warmwasser beim Duschen war die Ausnahme. Wenn es Besuch der Behörden gab, wurde alles schön hergerichtet und es gab gutes Essen. Aber nur dann. Der Alltag bestand aus Gebet, harte Arbeit und Erniedrigung mit den Worten: „Wir können mit euch machen was wir wollen, denn euch mag draußen eh niemand, sonst wärt ihr nicht hier.“

Als kurze Zeit später die Adoptivgroßmutter stirbt, bekommt meine Mutter nur einen Tag Ausgang für das Begräbnis. Während ihre Adoptivmutter oft geschäftlich zu tun hatte, war es sie, die fast immer für das Mädchen da war. Mit 19 Jahren erreichte sie dann die Großjährigkeit und wurde in die Freiheit entlassen. Ihrer Adoptivmutter ging es da gesundheitlich schon sehr schlecht und das Haus war noch immer nicht fertig gebaut. Ganz im Gegenteil, weil es nicht fertig war, wurde es schon wieder leicht baufällig. Doch statt Geld für die Instandsetzung gab es nur Schulden. Nur vier Monate nach der Entlassung stirbt auch die Adoptivmutter. Die Nacht nach dem Begräbnis übernachtete meine Mutter am Friedhof neben dem Grab.

Schon bald darauf meldeten sich die Gläubiger, bei der sich ihre Adoptivmutter Geld ausgeliehen hatte. Haus und Grund waren die einzigen Dinge von Wert. Das Gericht entschied, dass alles verkauft werden muss, damit die Gläubiger ihr Geld bekommen. Meine Mutter sollte dafür eine kleine Wohnung in Wien erhalten. Ein Termin wurde auch fixiert, bis zu dem eine erste hohe Rate fließen sollte, sonst würde die Versteigerung in die Wege geleitet. Meine Mutter hatte ganz allein mit ihren 19 Jahren keine Möglichkeit ohne Berufsausbildung diese hohe Summe in der kurzen Zeit aufzutreiben.

Hier gab es eine Weiche in ihrem Leben. Entweder die Chance mit der Wohnung nützen, was bedeutet schuldenfrei ein neues Leben in Wien zu beginnen mit einer Ausbildung zum Traumberuf Krankenschwester oder den Versuch wagen, fristgerecht das Geld zum Gericht zu bringen. Sie entschied sich für letzteres und ebnete damit den Weg in die Prostitution. Sie verkaufte ihre Seele für ein Stück Land, das davor eine Müllhalde war, mit einem unfertigen Haus darauf und einem Haufen Schulden.

Meine Mutter mit 17 Jahren
Das neu erbaute Haus, wie es im besagten Zeitraum aussah

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