Montag, 2. September 2013

Der Deal: Neue Freiheit gegen verstörende Realität

Es war also entschieden. Nach der dritten Klasse Gymnasium würde ich die Schule wechseln. Wir machten einen Termin aus und gingen uns das Sacre Coeur ansehen. Das Internat war im Vergleich zu den Schulbrüdern Strebersdorf ein kleines Anhängsel an die Schule und mutete eher an wie eine Herberge eines Schulschikurses. Die Zimmer konnten individuell gestaltet werden und insgesamt hatte es ein menschlicheres Antlitz. Aber mit meinen traumatischen Internatserfahrungen im Gepäck drängte ich meine Eltern dazu, mich nur ins Halbinternat zu geben. Ich roch den Geruch von Freiheit und konnte erahnen, welch neuer, abenteuerlicher Lebensabschnitt da nun vor mir lag. Sie ließen diese Entscheidung offen. Fix war aber, dass ich den Schulwechsel vollziehen durfte.

Ein Kunde meiner Mutter namens Weinhappel lebte in einem Pensionistenheim in Oberdöbling. Er war mehr als ein Kunde. Zu ihm hegte sie väterliche Gefühle. Er war bekennender Marxist und wirkte in seiner Erscheinung weise. Er selbst hatte keine Kinder und seine Frau war schon verstorben. Er konnte in seinem Leben einiges an Geld sparen, hatte keine Erben und suchte Familienanschluss. So kam es, dass es Besuche von meiner Mutter alleine gab und welche als Familie, zu denen ich auch mitkommen musste. Mir wurde er als Erbonkel vorgestellt. Er wollte sein marxistisches Gedankengut an mich weiter geben. Mich interessierte das damals überhaupt nicht. Ich tat meinen Eltern einen Gefallen, weil er ihnen ein Erbe in Aussicht stellte.

Kurze Zeit nach der Besichtigung meiner neuen Schule stand ein Weinhappel-Besuch an. Meine Mutter und ich waren am Weg zu ihm, als sie mir sagte, dass er mir etwas Wichtiges bekannte geben würde. Bei ihm angekommen ging sie wieder und ich saß mit ihm alleine da. Er sagte mir, dass meine Mutter ihn bat, mir etwas zu sagen, was sie selber nicht schaffen würde, er mir das aber nur sagen würde, wenn er mir die ganze Wahrheit sagen dürfte. Meine Mutter hatte dem im Vorfeld eingewilligt. Er setzte mich darüber in Kenntnis, dass meine Mutter zu dieser Zeit Prostituierte war und noch immer diesen Beruf ausübte. Nicht auf der Straße aber von zu Hause aus. Das war jene Offenlegung, um die ihn meine Mutter gebeten hatte. Was er mir aber zusätzlich und somit als ganze Wahrheit präsentierte war, dass mein Vater sicher nicht mein echter Vater sei.

Ich war wie paralysiert. Einerseits verstand ich die Worte und den Inhalt dieses Gesprächs, andererseits konnte ich nur schwer etwas damit anfangen und mit mir in Zusammenhang bringen. Ich dachte mir, das hätte nichts mit mir zu tun. Unterbewusst fing aber an eine Maschinerie zu arbeiten. Ich begann mich für meine Eltern, das Haus und ihr Leben zu schämen, was auch auf mich und meinen Selbstwert abfärbte. Aber noch viel schlimmer war die Tatsache, dass mich meine Mutter in ihr Lügenkonstrukt hinein zog. Am Weg nach Hause sagte sie mir, ich dürfe mir nichts anmerken lassen. Sie hatte alles so eingefädelt, damit mein vermeintlicher Vater glaubt, er wäre der Leibliche. Würde er die Wahrheit erfahren, müsste man mit einer heftigen Reaktion rechnen. Es könnte sogar sein, dass er sich, mich oder uns alle drei ermordet. Als Taxifahrer hatte er eine Waffenbesitzkarte und es gab zwei Schusswaffen im Haus. Sie erzählte mir auch von einem Vorfall, als er auf sie schoss. Dazu aber später.

Tatsache ist, dass mein Verhältnis zu meinem Vater ab diesem Tag gestört war. Ich musste ihm ab dann einen Sohn vorspielen, von dem ich selbst zweifelte, dass ich es war. Ich entfernte mich innerlich somit zusehends von ihm. Gleichzeitig tat er mir aber auch leid, weil ihn meine Mutter so gehörnt hatte. Andererseits hatten seine dominanten Interessen mich nicht meinen Platz im Leben meiner Mutter und im Elternhaus finden lassen. Wie auch immer, meine Haltung ihm gegenüber wurde mit der Zeit immer indifferenter.

Im Sommer vor dem Schulwechsel verbrachte ich fünf Wochen durchgehend im Ferienhort am Wolfgangsee. In diesem Alter war so ein Ferienlager keine schlimme Sache mehr. Ich konnte mich frei auf dem großen, bewaldeten Gelänge bewegen oder das vielfältige Sportangebot nützen. Erste Kontakte zu Mädels waren auch schon Thema – eine aufregende Zeit. Während meines Aufenthaltes dort kamen mich meine Eltern ein Mal besuchen. Im Zuge dessen erklärten sie mir folgendes: Die Kunden, die meine Mutter zu Hause empfing, waren noch aus er Zeit vor meiner Geburt und starben aus. Das Taxigeschäft ging immer schlechter und somit war es notwendig geworden, dass meine Mutter mit ihren 44 Jahren wieder auf den Straßenstrich geht. Ich nahm es zur Kenntnis und wusste noch nicht, was das für mein weiteres Leben zu bedeuten hatte. Ich nahm es hin und sah es als Deal, denn nichts war mir wichtiger als mein neuer Lebensabschnitt ohne Vollinternat, was wie ein Leben in absolute Freiheit anmutete. Die neuen Erkenntnisse und erschwerten Lebensumstände waren aus meiner Sicht die Opfer, die ich dafür erbringen musste.

Nachdem meine Oma ja noch immer mein Zimmer besetzte und ich nun durchgehend jede Nacht zu Hause schlief musste eine Wohnmöglichkeit für mich geschaffen werden. Ich bekam ein eigenes Bett, das im Elternschlafzimmer am Fußende ihres Bettes platziert wurde und einen eigenen Raum am Dachboden. Dorthin kam man nur über eine Leiter und die Raumhöhe war so, dass ich nicht aufrecht stehen konnte. Dieser Raum wurde nicht Kinderzimmer sondern Hobbyraum genannt. Dort oben hatte ich einen eigenen Schreibtisch, eine Matratze und einen Fernseher mit angesteckter Spielekonsole. Meine Legoeisenbahn stand davor schon da. Dort oben allein zu spielen machte mir aber nie wirklich Spaß.

Meine Eltern standen im Laufe des Nachmittags auf. Um 18 Uhr kam ich dann von der Schule. Danach gab es ein gemeinsames Essen bevor sie zwischen 20 und 21 Uhr das Haus verließen. Er fuhr mit dem Taxi bis ca. sechs Uhr und sie ging auf den Strich bis ca. drei Uhr. Ich war mit meinen fast 14 Jahren glücklicherweise in der Nacht nicht alleine im Haus. Meine über 80jährige Oma war auch noch da. Als ich um sieben Uhr aufstand war sie schon wach und mein Vater war meist auch noch auf. Er sah sich Sendungen im Fernsehen an, die er sich am Abend davor aufgenommen hatte.

Dienstagabend kam immer ein Kunde um 18 Uhr. Er durfte nicht wissen, dass ich nicht mehr im Internat war und sogar zur selben Zeit im Haus. Vor ihm musste ich mich immer verstecken. Ich bekam mit, wie er sich zur Einstimmung mit meiner Mutter im Wohnzimmer einen Porno ansah und dann mit ihr in den Keller ging.

So ging das ein Jahr lang, bis ich dann ab der Oberstufe auch die Nachmittage nicht im Internat war. Meistens verbrachte ich diese bei einem Freund. Seine Eltern lebten in einer alten Villa in Purkersdorf und waren sehr nett zu mir. Aus meiner Sicht lebten sie ein Familienidyll und verkörperten genau das Gegenteil von dem, was ich zu Hause vorfand. Ich machte oft auch meine Hausübungen dort und konnte mitessen. Mein Elternhaus war ab dann nur noch ein Ort an dem ich schlief, mich duschte und wo ich Geld und Essen bekam. Ich lebte mein eigenes Leben. Ich versuchte mit den Gleichaltrigen in meinem Umfeld, die aus meiner damaligen Sicht in normalen und somit besseren Verhältnissen aufwuchsen, mit zu halten. Trotzdem konnte die ganze Verschleierung jederzeit auffliegen. Es musste nur jemand aus meinem Leben meine Mutter auf der Felberstraße stehen sehen...

Mein erstes eigenes Zimmer, der "Hobbyraum"

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