Montag, 26. August 2013

Der ganz normale Wahnsinn

Damit man meine Kindheit noch besser verstehen kann, muss man die ganze Situation beleuchten, in der ich damals gelebt habe.

Meine Mutter lebte nach außen hin das Leben einer Hausfrau in einem Haus mit Garten am Stadtrand von Wien. Tatsächlich empfing sie Kunden aus jener Zeit vor meiner Geburt auf dem Straßenstrich. Es waren auch Männer dabei, denen sie einen Hausbesuch abstattete. Mein Vater fuhr jede Nacht Taxi, außer von Sonntag auf Montag und von Montag auf Dienstag. Von ca. acht bis 16 Uhr schlief er. Seine Mutter, meine kleine Oma, war schon 69 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Sie hatte noch eine Wohnung im 10. Bezirk, die sie aber im Laufe der Zeit immer weniger bewohnte. Sie wurde älter und gebrechlicher, weshalb sie schleichend ins Elternhaus übersiedelte. Es gab in diesem Haus ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer. Ursprünglich waren es zwei Zimmer mehr. Aber meine Eltern rissen zwei Mauern ab, wodurch je ein großes Wohn- und Elternschlafzimmer entstand. Im Kinderzimmer wohnte meine Oma, die immer gegen die Verbindung ihres Sohnes mit meiner Mutter war und wenn es heiß her ging sie als Hure beschimpfte. Trotzdem nahm meine Mutter sie in ihrem Haus auf, weshalb ich bis ins Alter von 13 Jahren kein eigenes Bett in diesem Haus hatte. Ich schlief immer im Ehebett, entweder auf der Seite meiner Mutter oder meines Vaters in deren Bettzeug. Sie weichte dafür in den Keller aus, wo es ein Bett neben der Sauna gab, in dem sie auch ihre sexuellen Dienstleistungen an den Mann brachte. Er hatte als Ausweichmöglichkeit das Sofa im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Meine Spielsachen waren in einer Lade im Wohnzimmer und in einer Schachtel in der Küche verstaut. Meine Kleidung in einem Wohnzimmerkästchen, das kleiner war als die Sockenlade meines Vaters. Meine Eltern hatten keinen Raum in ihrem Leben für mich geschaffen und das spiegelte sich auch in ihrem Haus wieder. Die Einrichtung war nur vom Feinsten, beispielsweise das Wohnzimmer nach Maß aus Palisanderholz, der Garten von Gärtnern geplant und gestaltet, in den Kästen Maßanzüge und Pelze, Gold und Edelsteine am Körper und in der Garage neben dem Taxi noch ein zweiter Mercedes für private Zwecke. Nur für mich war kein Platz. Alles diente der Wahrung des Scheins. Meine Eltern lebten für ein Bild, von dem sie meinten, es entstünde in den Köpfen der Menschen, wenn diese all den materiellen Wohlstand neiderfüllt sahen. Über mögliches Unbehagen hinsichtlich der Geldquelle wurde hinweg geprotzt. Den Großteil des Luxuslebens finanzierte nämlich meine Mutter unter Einsatz ihres nackten Körpers.

Daneben unternahm sie an den Wochenenden schon immer wieder etwas mit mir. Wir waren im Sommer oft gemeinsam im Bad oder gingen Radfahren. Im Winter waren wir Rodeln. Bei Ausflügen mit dem Auto waren wir auch schon mal zu viert unterwegs, etwa in die Wachau. Mein Vater beschäftigte sich wenig mit mir. Sein Hobby war das Fernsehen, mit dem er die meiste Zeit beschäftigt war. Manchmal kamen aber auch Kunden in der Zeit, als ich zu Hause war, beispielsweise an langen Wochenenden mit schulfreiem Fenstertag. Da setzte er mich ins Auto und fuhr mit mir durch die Gegend. Er nannte es Häuser schauen fahren. Manchmal ging er auch mit mir hinter das Haus, einer von uns ging rauf auf die höher gelegene Terrasse und wir warfen mit der Hand den Ball rauf und runter. Für Fußball war der Grund dort zu verbaut und uneben. Vor dem Haus war es ein angelegter Schau-Garten, nicht zum Spielen geeignet. Die Highlights mit ihm waren Kleidungshoppen und ein Mal im Jahr in den Prater gehen um 1.000 Schilling zu verblasen. Dafür sah er sich zuständig. Mit der Zeit lernte ich Schifahren und später im Gymnasium entwickelte ich mich zu einem guten Schwimmer. Mein Vater hat mich nie Schifahren oder Schwimmen gesehen, weil er beides nicht konnte. Somit war er nie in einem Schwimmbad oder auf einer Schipiste.

Meine Eltern machten ihren letzten Urlaub im klassischen Sinn 1970 in Kroatien. Wenn sie sich in den folgenden Jahren Urlaub nahmen, dann um am Haus oder im Garten zu arbeiten. Obwohl sie viel Geld hatten, konnten sie sich kein lustvolles Leben damit ermöglichen. Sie hatten kein Bild davon, wie das aussehen sollte. Das Geldverdienen hatte oberste Priorität und nicht das Wohlbefinden des Einzelnen. Am ehesten konnte mein Vater sein Leben genießen, weil er keine hohen (bzw. nur materielle) Ansprüche hatte und diese waren zur Gänze erfüllt. Meine Mutter machte sich diesbezüglich überhaupt keine Gedanken. Sie war froh, wenn sie ihre kleinen Freiheiten im Alltag hatte. Inseln, die sie sich durch geschickte Lügen schaffte. Aber dazu später.

Mein einziger Urlaub mit meinen Eltern war 13- oder 14-jährig mit meinem Vater eine Woche am Wörthersee. Meine Sommerferien während der Volksschulzeit verbrachte ich in einem von der Volksschule aus organisiertem Ferienlager in Neulengbach, Niederösterreich. Ich war durch all die Jahre hindurch das einzige Kind, das alle neuen Ferienwochen von Montag bis Freitag dort war. Schifahren lernte ich als ich achtjährig anlässlich der Semesterferien 1983 in einen Bus gesteckt wurde, der mich wieder mit unbekannten Menschen an einen unbekannten Ort (Mondsee) brachte, wo ich auf Schier gestellt wurde. Ich fand es zum Kotzen, aber mich hatte niemand gefragt, ob ich das will und meine Eltern waren froh, dass ich untergebracht war. Ab dann verbrachte ich Schulferien im Winter immer auf Schikursen. Erst im Gymnasium fing es an mir auch Spaß zu bereiten.

In der Ferien-Not wurde ich auch ein Mal als Volksschüler in der Familie eines Freiers beherbergt. Dort wurde ich von dem damals 14-jährigen Sohn sexuell belästigt. Ich verstand den Sinn dessen damals noch nicht und weigerte mich, ihn oral zu befriedigen, nachdem er es bei mir ansatzweise versucht hatte um mir zu zeigen, was er meinte. Zum Glück akzeptierte er meine Verweigerung. Weil meine Eltern jeglichen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie abgebrochen hatten, gab es nur sie, meine mit mir überforderte Oma und mich. Deshalb mussten sie mich oft bei mir fremden Personen unterbringen.

Ich war mittlerweile sehr genügsam, gefügig, und anpassungsfähig. Mir kam das zwar alles auch irgendwie komisch vor, aber in meiner kindlichen Solidarität und Abhängigkeit spielte ich sogar perfekt mit und hielt den Schein aufrecht ein wohlerzogener, intelligenter Bub zu sein, dem an nichts fehlte. Wo ich auch gerade war, jeder glaubte, dass ich dort wo ich sonst bin sicher gut untergebracht wäre. Dass es sicher wo jemanden gäbe, der sich wirklich meiner annimmt. Naturgemäß geht die Schule bzw. das Internat davon aus, dass die Eltern diese Funktion übernehmen. Meine Eltern machten sich aber keine Gedanken um meine psychische Entwicklung und mein ganzheitliches Wohlergehen. Das passte ihnen nicht ins Konzept und selbst waren sie zu einfach gestrickt um irgendwas zu reflektieren. Sie waren sicher, dass es mir immer gut ging, wo ich war, denn sie zahlten ja viel Geld dorthin – für Beaufsichtigung, ein Bett, eine Waschmöglichkeit, ein Dach über dem Kopf, Essen, Raumwärme und saubere Kleidung. Das musste reichen. Ich selbst war zu jung und konnte das alles noch nicht hinterfragen. Meine Eltern bestimmten meine Realität und ich passte mich perfekt an diese Abnormität an, die zu meiner absurden Realität geworden war.

Eines der wenigen Fotos von uns zu dritt in einer Alltagssituation auf einer Hochzeit
Ausflug mit einer fremden Familie aus dem Umfeld von Frau Hartl (Bub ganz rechts)
Kleine Oma in der Küche. Dahinter die Spielzeugschachtel
Vor dem Haus im Garten. Kein Ort zum Spielen, nur zum Anschauen

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