Damit man meine Kindheit noch besser verstehen kann, muss
man die ganze Situation beleuchten, in der ich damals gelebt habe.
Meine Mutter lebte nach außen hin das Leben einer Hausfrau
in einem Haus mit Garten am Stadtrand von Wien. Tatsächlich empfing sie Kunden
aus jener Zeit vor meiner Geburt auf dem Straßenstrich. Es waren auch Männer dabei,
denen sie einen Hausbesuch abstattete. Mein Vater fuhr jede Nacht Taxi, außer
von Sonntag auf Montag und von Montag auf Dienstag. Von ca. acht bis 16 Uhr
schlief er. Seine Mutter, meine kleine Oma, war schon 69 Jahre alt, als ich zur
Welt kam. Sie hatte noch eine Wohnung im 10. Bezirk, die sie aber im Laufe der
Zeit immer weniger bewohnte. Sie wurde älter und gebrechlicher, weshalb sie
schleichend ins Elternhaus übersiedelte. Es gab in diesem Haus ein Wohnzimmer
und zwei Schlafzimmer. Ursprünglich waren es zwei Zimmer mehr. Aber meine
Eltern rissen zwei Mauern ab, wodurch je ein großes Wohn- und
Elternschlafzimmer entstand. Im Kinderzimmer wohnte meine Oma, die immer gegen
die Verbindung ihres Sohnes mit meiner Mutter war und wenn es heiß her ging sie
als Hure beschimpfte. Trotzdem nahm meine Mutter sie in ihrem Haus auf, weshalb
ich bis ins Alter von 13 Jahren kein eigenes Bett in diesem Haus hatte. Ich
schlief immer im Ehebett, entweder auf der Seite meiner Mutter oder meines
Vaters in deren Bettzeug. Sie weichte dafür in den Keller aus, wo es ein Bett
neben der Sauna gab, in dem sie auch ihre sexuellen Dienstleistungen an den Mann
brachte. Er hatte als Ausweichmöglichkeit das Sofa im Wohnzimmer vor dem
Fernseher. Meine Spielsachen waren in einer Lade im Wohnzimmer und in einer
Schachtel in der Küche verstaut. Meine Kleidung in einem Wohnzimmerkästchen,
das kleiner war als die Sockenlade meines Vaters. Meine Eltern hatten keinen
Raum in ihrem Leben für mich geschaffen und das spiegelte sich auch in ihrem
Haus wieder. Die Einrichtung war nur vom Feinsten, beispielsweise das
Wohnzimmer nach Maß aus Palisanderholz, der Garten von Gärtnern geplant und
gestaltet, in den Kästen Maßanzüge und Pelze, Gold und Edelsteine am Körper und
in der Garage neben dem Taxi noch ein zweiter Mercedes für private Zwecke. Nur
für mich war kein Platz. Alles diente der Wahrung des Scheins. Meine Eltern
lebten für ein Bild, von dem sie meinten, es entstünde in den Köpfen der
Menschen, wenn diese all den materiellen Wohlstand neiderfüllt sahen. Über
mögliches Unbehagen hinsichtlich der Geldquelle wurde hinweg geprotzt. Den
Großteil des Luxuslebens finanzierte nämlich meine Mutter unter Einsatz ihres
nackten Körpers.
Daneben unternahm sie an den Wochenenden schon immer wieder
etwas mit mir. Wir waren im Sommer oft gemeinsam im Bad oder gingen Radfahren.
Im Winter waren wir Rodeln. Bei Ausflügen mit dem Auto waren wir auch schon mal
zu viert unterwegs, etwa in die Wachau. Mein Vater beschäftigte sich wenig mit
mir. Sein Hobby war das Fernsehen, mit dem er die meiste Zeit beschäftigt war. Manchmal
kamen aber auch Kunden in der Zeit, als ich zu Hause war, beispielsweise an
langen Wochenenden mit schulfreiem Fenstertag. Da setzte er mich ins Auto und
fuhr mit mir durch die Gegend. Er nannte es Häuser schauen fahren. Manchmal
ging er auch mit mir hinter das Haus, einer von uns ging rauf auf die höher
gelegene Terrasse und wir warfen mit der Hand den Ball rauf und runter. Für
Fußball war der Grund dort zu verbaut und uneben. Vor dem Haus war es ein
angelegter Schau-Garten, nicht zum Spielen geeignet. Die Highlights mit ihm
waren Kleidungshoppen und ein Mal im Jahr in den Prater gehen um 1.000 Schilling
zu verblasen. Dafür sah er sich zuständig. Mit der Zeit lernte ich Schifahren
und später im Gymnasium entwickelte ich mich zu einem guten Schwimmer. Mein
Vater hat mich nie Schifahren oder Schwimmen gesehen, weil er beides nicht
konnte. Somit war er nie in einem Schwimmbad oder auf einer Schipiste.
Meine
Eltern machten ihren letzten Urlaub im klassischen Sinn 1970 in Kroatien. Wenn
sie sich in den folgenden Jahren Urlaub nahmen, dann um am Haus oder im Garten
zu arbeiten. Obwohl sie viel Geld hatten, konnten sie sich kein lustvolles
Leben damit ermöglichen. Sie hatten kein Bild davon, wie das aussehen sollte.
Das Geldverdienen hatte oberste Priorität und nicht das Wohlbefinden des
Einzelnen. Am ehesten konnte mein Vater sein Leben genießen, weil er keine
hohen (bzw. nur materielle) Ansprüche hatte und diese waren zur Gänze erfüllt.
Meine Mutter machte sich diesbezüglich überhaupt keine Gedanken. Sie war froh,
wenn sie ihre kleinen Freiheiten im Alltag hatte. Inseln, die sie sich durch
geschickte Lügen schaffte. Aber dazu später.
Mein einziger Urlaub mit meinen Eltern war 13- oder
14-jährig mit meinem Vater eine Woche am Wörthersee. Meine Sommerferien während
der Volksschulzeit verbrachte ich in einem von der Volksschule aus
organisiertem Ferienlager in Neulengbach, Niederösterreich. Ich war durch all
die Jahre hindurch das einzige Kind, das alle neuen Ferienwochen von Montag bis
Freitag dort war. Schifahren lernte ich als ich achtjährig anlässlich der
Semesterferien 1983 in einen Bus gesteckt wurde, der mich wieder mit
unbekannten Menschen an einen unbekannten Ort (Mondsee) brachte, wo ich auf
Schier gestellt wurde. Ich fand es zum Kotzen, aber mich hatte niemand gefragt,
ob ich das will und meine Eltern waren froh, dass ich untergebracht war. Ab
dann verbrachte ich Schulferien im Winter immer auf Schikursen. Erst im
Gymnasium fing es an mir auch Spaß zu bereiten.
In der Ferien-Not wurde ich auch ein Mal als Volksschüler in
der Familie eines Freiers beherbergt. Dort wurde ich von dem damals 14-jährigen
Sohn sexuell belästigt. Ich verstand den Sinn dessen damals noch nicht und
weigerte mich, ihn oral zu befriedigen, nachdem er es bei mir ansatzweise
versucht hatte um mir zu zeigen, was er meinte. Zum Glück akzeptierte er meine
Verweigerung. Weil meine Eltern jeglichen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie
abgebrochen hatten, gab es nur sie, meine mit mir überforderte Oma und mich.
Deshalb mussten sie mich oft bei mir fremden Personen unterbringen.
Ich war mittlerweile sehr genügsam, gefügig, und anpassungsfähig.
Mir kam das zwar alles auch irgendwie komisch vor, aber in meiner kindlichen
Solidarität und Abhängigkeit spielte ich sogar perfekt mit und hielt den Schein
aufrecht ein wohlerzogener, intelligenter Bub zu sein, dem an nichts fehlte. Wo
ich auch gerade war, jeder glaubte, dass ich dort wo ich sonst bin sicher gut
untergebracht wäre. Dass es sicher wo jemanden gäbe, der sich wirklich meiner
annimmt. Naturgemäß geht die Schule bzw. das Internat davon aus, dass die
Eltern diese Funktion übernehmen. Meine Eltern machten sich aber keine Gedanken
um meine psychische Entwicklung und mein ganzheitliches Wohlergehen. Das passte
ihnen nicht ins Konzept und selbst waren sie zu einfach gestrickt um irgendwas
zu reflektieren. Sie waren sicher, dass es mir immer gut ging, wo ich war, denn
sie zahlten ja viel Geld dorthin – für Beaufsichtigung, ein Bett, eine
Waschmöglichkeit, ein Dach über dem Kopf, Essen, Raumwärme und saubere
Kleidung. Das musste reichen. Ich selbst war zu jung und konnte das alles noch
nicht hinterfragen. Meine Eltern bestimmten meine Realität und ich passte mich
perfekt an diese Abnormität an, die zu meiner absurden Realität geworden war.
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Eines der wenigen Fotos von uns zu dritt in einer Alltagssituation auf einer Hochzeit |
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Ausflug mit einer fremden Familie aus dem Umfeld von Frau Hartl (Bub ganz rechts) |
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Kleine Oma in der Küche. Dahinter die Spielzeugschachtel |
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Vor dem Haus im Garten. Kein Ort zum Spielen, nur zum Anschauen |
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