Sonntag, 25. August 2013

Du musst an einen Gott glauben

In der ersten Klasse Volksschule, also im zweiten Internatsjahr, kam ich in eine Klasse mit insgesamt fünf Internatsbuben. Wir waren vor-, wie nachmittags unzertrennlich. Das hat mir sehr dabei geholfen, die restlichen vier Jahre meiner Zeit in diesem Internat zu überstehen. Aber ein Aspekt in diesem Zusammenhang ist es wert, einen eigenen Blog-Eintrag darüber zu schreiben.

Wie schon erwähnt, war ich fünf Jahre und zehn Monate alt, als ich zum ersten Mal mit Erziehungseinrichtungen der katholischen Kirche in Kontakt kam. Davor wusste ich nicht einmal, dass es so etwas wie Religion gibt und Menschen an einen Gott glauben. Das war mir unbekannt, weil es bis dato keine Rolle in meinem davon unbehelligtem Leben gespielt hatte.

Am Vormittag im Klassenverband gab es in der Vorschule keinen Religionsunterricht. Niemand erklärte mir, warum ich beten und immer wieder in die Kirche gehen sollte. Ich kannte die Gebete auch nicht. Wir beteten vor dem Essen und dem Schlafengehen, gingen regelmäßig zum Gottesdienst und pflegten sonstige dem Kirchenkalender entsprechende Rituale. Beim Zubettgehen musste wir gemeinsam im Schlafsaal mit dem Gesicht zum Kreuz das Vaterunser und das Gegrüßetseistdumaria beten. Von Abend zu Abend konnte ich mir immer mehr davon merken. Letztendlich konnte ich mitbeten, aber verstehen konnte ich es nicht. Besonders schlimm war der allfreitägliche Kreuzgang in der Fastenzeit, als ich das gesamte Leid Christi vor seinem Tod mit durchleben musste, ich aber nicht verstand, was das mit mir zu tun hatte. Bei meiner ersten Beichte in der zweiten Volksschule hatte ich wahnsinnig große Angst, nicht den richtigen Text an der richtigen Stelle zu sagen. Diese Beichte fand im letzten Stock des Hauses in einer Kapelle statt, an einem Ort, zu dem wir sonst keinen Zutritt hatten. Der Pfarrer in seinem Gewand und mit seiner Größe gab mir das Gefühl, als würde Gott persönlich vor mir stehen. Ich fühlte mich klein und nichtig, voller Angst das Falsche zu machen und sogleich für immer in die Hölle zu kommen. Der Glaube wurde mir aufgezwungen indem sie ihn mir in den Alltag integrierten. Ich konnte mindestens ein Jahr nicht zwischen dem realen Leben und den darin gelebten religiösen Ritualen unterscheiden. Ein Leben wie auf einem religiösen LSD-Horrortrip.

Ins erste Gymnasium kam ich nach Strebersdorf zu den Schulbrüdern, auch wieder ins Internat. Dort herrschte ein Klima der strukturellen Gewalt. Die Erwachsenen hatten die absolute Gewalt über die SchülerInnen und gaben dir das Gefühl, dass du ein Nichts bist, das sich fügen muss. Jegliche Individualität wurde einem ausgetrieben, der eigenen Wille gebrochen. Die "Pädagogen" konnte einem das Leben zur Hölle machen, indem sie einem alle damals interessanten Tagespunkte strichen. Nicht nur das, man musste den anderen dann beim Spaßhaben zusehen. Zusätzlich zu den Hausübungen bekam man Strafstudium. Das Verhalten der ganzen Woche wurde im sogenannten Wochenbericht dokumentiert. Am Ende der Woche kamen der Direktor oder der Heimleiter in die Klasse. Jeder wurde mit Namen aufgerufen. Man musste aufstehen, der Präfekt las die Lobe und Tadel getrennt nach Betragen und Fleiß im Wochenheft vor. War man schlimm gewesen, musste man sich dann vor allen zur Sau machen lassen, bis man sich wieder setzten durfte. Ich hatte damals schon das Gefühl, dass das alles nicht in Ordnung war. Aber wenn das in einem geschlossenen System, in dem du auch noch eingesperrt bist als Normalität gelebt wird, ist man dem hilflos ausgeliefert und muss sich fügen. Ich habe dadurch gelernt zu kuschen und vor allem bestens zu funktionieren. Ich habe eine Hochschulausbildung, aber ich kämpfe noch immer darum, meinen Platz in der Welt zu finden, weil der Draht zu meinen Gefühlen und in weiterer Folge auch die Schnittstelle zur Außenwelt gestört ist. Ich komme immer wieder im Berufsleben zu dem Punkt, an dem ich nur noch funktioniere und alles ausnahmslos als enormen Zwang erlebe. So wie ich mich im Internat gefühlt habe. Dann muss ich ausbrechen indem ich Job wechsle. Glücklicherweise kann ich dann immer aus der Situation raus, was mir als Kind aber nicht möglich war. Für mich gab es aus damaliger Sicht kein Entkommen und keine Alternative.

Ich wurde in den katholischen Erziehungeinrichtungen nicht sexuell misshandelt, aber seelisch - und bis heute habe ich damit zu kämpfen. In einem System, in dem die strukturelle Macht allgegenwärtig ist und damit ein Klima erzeugt, wie ich es in Strebersdorf vorgefunden habe kann ich mir gut vorstellen, dass die Allmacht über die Kinder den Erziehern das Gefühl gab, sie dürften über die Kinder verfügen wie sie es wollten. Die Augelieferten zugänglich für mögliche Übergriffe zu machen ist dann auch nicht schwer, weil sie in diesem Klima der Kälte und Strenge jegliche außergewöhnliche "Zuwendung" und jedes vermeintliche "Goodie" dankbar annehmen.

Beim Fotografen nach der Erstkommunion: künstliches Lächeln

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