Meine Mutter brachte mich am Montagmorgen in eine mir komplett fremde Welt mit ihren eigenen Regeln und mir unbekannten Menschen. Schlafen im Schlafsaal mit rund 20 anderen "Leidgenossen" von 19 Uhr bis 7 Uhr Früh - egal ob fünf oder zehn Jahre alt. In jedem Jahrgang gab es eine Klasse mit einigen Internatsbuben. Sie alle verbrachten den Nachmittag, Abend und die Nacht gemeinsam im letzten Stock des Hauses. Dabei blieben sie klassenweise als Gruppe beieinander. Mein Problem war, dass niemand so grausam zum eigenen Kind war und es schon in der Vorschule ins Internat gab. Somit war ich der Einzige in meiner Klasse.
Am Vormittag war es noch ganz in Ordnung. Da fühlte ich mich im Klassenverband nicht so alleine. Aber das Hinaufgehen in den letzten Stock war für mich blanker Horror. Dort war ich einsam und verlassen. Während alle anderen Teil einer Gruppe waren, fühlte ich mich alleine in einer fremden, kühlen Welt voller Regeln und Gebeten. Ich war dort lediglich untergebracht aber nicht beheimatet. Einer von vielen und im Prinzip allen egal.
Ich entwickelte in dieser trostlosen Situation eine Essstörung. Unabhängig davon, dass das Essen nicht besonders gut war und ich kein Mitbestimmungsrecht hatte, wurde mir beim Gedanken daran sofort schlecht. Das auf mich unmenschlich wirkende Klima im Internat setzte sich in mir fest und nahm mir die Lebenslust. Nach jeder Essensausgabe fand ich mich im Speisesaal, für mich ein Ort des Grau(s)ens, vor eine mir unlösbaren Aufgabe gestellt: Wie soll ich nur diesen Teller voll mit Essen weg bekommen? Mir war einfacher nur dauerschlecht. Jedes Bissen kaute ich ewig, bevor ich ihn hinunter würgte. Natürlich war ich immer der Letzte im Speisesaal. Das Personal wollte diesen dann aber immer schon fertig machen und zusperren. Wohin mit mir? Die Lösung war, mich mitsamt des Tellers zur Schwester Oberin in ihr Büro zu versetzen. Vor ihr hatte ich größte Ehrfurcht. Sie brauchte gar nichts zu sagen. Allein ihre Anwesenheit versetzte mich unter höllischen Druck, der mir dabei half, mich selbst zu korrumpieren. Ich stellte mir vor, ich selbst wäre nicht da, nur mein Körper. Somit konnte ich ihn Dinge machen lassen, ohne dass ich darunter leiden musste. Eine psychische Meisterleistung eines Sechsjährigen. Heute würde man Abspaltung dazu sagen. Ich schmeckte und spürte nichts. Mein Körper war wie mechanisch. Diesen Trick hatte ich dann ganz gut raus, als ich mehrere Male bei ihr zu Ende essen musste. Obwohl es in den 1980er Jahren schon solche Begriffe wie Psyche, Psychosomatik und Pädagogik gab, nahm niemand davon Kenntnis. Ein Mal war aus irgendeinem Anlass meine Mutter zufällig zur Zeit des Mittagessens im Internat anwesend. Ich schaffte es irgendwie, ihr den Teller zukommen zu lassen und sie aß mich für diese Tag frei. Es gab Fleischknödel mit Sauerkraut. Sie sah mein Leid und meinte nur: "Ich weiß nicht was du hast. Schmeckt doch eh nicht so schlecht."
Niemand sah meine Not. Und aus meiner Sicht war es normal. Ich konnte ja noch nicht darüber reflektieren. Das hätten andere machen müssen. Ich musste da alleine durch. So wie durch alle mich überfordernden Situationen, in die ich während meiner Kindheit einfach hinein gespukt wurde. Ich musste einfach selber schauen, wie ich damit umgehe, meist war das nach dem Motto "Augen zu und durch". Das Wochenende bei und mit meinen Eltern war eine Zuflucht. Aber sie selbst waren keine Vertrauenspersonen, denn sie waren es ja, die mich Woche für Woche am Montag wieder in die Hölle deportierten. Ich war in meiner hoffnungslosen Lage ganz allein. Das Betreuungspersonal im Internat wurde dafür bezahlt darauf zu achten, dass die strikte Tagesstruktur von allen eingehalten wird. Sie waren die Hüter der Ordnung. Wichtig war nur darauf zu achten, dass niemand aus der Reihe tanzt. Wie es einem ging, das war kein Thema.
Ich verstand nicht, was da mit mir passierte und warum andere Kinder, mit denen ich den Vormittag in der Klasse verbrachte entweder nach der Schule (extern) aber spätestens dann gegen Abend (halbintern) von den Eltern abgeholt wurden und ich nicht, sondern bis Freitag 16 Uhr warten musste. In meiner kindlichen Sichtweise konnte nur ich und mein Verhalten daran schuld sein. Also versuchte ich das zu optimieren. Ich war extrem ehrgeizig während der Schulzeit am Vormittag und überaus angepasst an die Regeln anschließend im Internat. Ich wollte, dass man mich sieht und als besonders wahrnimmt. Andere werden aufmüpfig und aggressiv um das zu bewerkstelligen. Ich wählte den genau anderen Weg. Im Nachhinein weiß ich, dass die andere Option eher zum Ziel geführt hätte. Jene, die die Ordnung brechen und aufsässig sind werden eher wahrgenommen. Das entspricht nicht meiner Art, aus heutiger Sicht hätte mir das sicher eher geholfen.
Aber meine Eltern gaben mir immer das Gefühl, dass es überhaupt gar keine Alternative zu meiner Lebenssituation gibt. Sie wollten sich nicht damit auseinander setzen. Dafür war die Lösung viel zu gemütlich, aber eben nur für sie.
1. Schultag: Ich wußte noch nicht was mich erwartet. |
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