Dienstag, 17. September 2013

Meine Mutter

Jene Person, über die ich bis dato am wenigsten geschrieben habe, ist meine Mutter. Sie ist die zentrale Figur in dieser Geschichte. Deshalb habe ich sie mir für zuletzt aufgehoben. Mit ihrem Leben sind alle bisherigen Episoden verwoben. Was nun kommt wird einiges erklären, aber es ist keine Entschuldigung für das Leid, das sie mir zugefügt hat. Wie jeder Mensch hatte auch sie immer mehrere Entscheidungsmöglichkeiten und als erwachsene Person muss auch sie die Konsequenzen ihres Handelns zu hundert Prozent verantworten – bis zum heutigen Tag.

Meine Mutter wurde als Elisabeth Lanzenbacher am 14. März 1944 geboren, also mitten im Krieg. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon zwei um ein paar Jahre ältere Geschwister in der Familie. Ihre Eltern lebten als Bauern und bestellten einen Hof in Atzling, nahe Pyhra bei St. Pölten. Ihr Vater war Soldat. Auf einem Heimurlaub war die Hochzeit mit seiner schwangeren Frau geplant. Doch eine Biene stach ihn im Gesicht, das daraufhin so sehr anschwoll, dass die Hochzeit auf den nächsten Heimurlaub verschoben wurde. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen, er kam nie wieder aus Russland zurück. Und so kam meine Mutter als Halbwaise zur Welt. Der entbindende Dorfarzt kam zu dem Schluss, dass der jungen Mutter sicher alles über den Kopf wachsen würde. Ohne Mann zwei Kinder aufziehen und noch den Hof bestellen wäre schon genug Herausforderung. Da passte ein Neugeborenes nicht hinein. Deshalb leitete er eine Adoption in die Wege.

Adoptiert wurde sie von einer Frau, die zwar mit keinem Mann liiert war, aber noch mit ihrer Mutter zusammen lebte. Somit hatte meine Mutter eine Mama und eine Oma gewonnen. Eine fixe männliche Bezugsperson fehlte aber. Ihre neue Mutter war Geschäftsfrau und hatte einen Modezeitschriftenverlag. Das besondere an den Heften war, dass darin Schnitte für die selbständige Erzeugung von Kleidungsstücken abgedruckt waren. Gemeinsam mit einer Nähanleitung konnte frau damit ein Stück Stoff zu einem neuen Kleidungsstück verarbeiten. Nach dem Krieg hatten wenige Familien das Geld für Gewand aus dem Kaufhaus. Somit waren diese Hefte begehrt. Sie lebten zu dritt in einer Wohnung eines Mehrfamilienhauses in Gablitz. Das Geschäft lief gut und deshalb sollte ein Haus her. Ihre Adoptivmutter pflegte immer wieder Beziehungen zu Männern.

Einer dieser Männer, sein Name war Weidinger und von Beruf Polizist, spielte dann eine nicht unwesentliche Rolle in ihrem Leben. Er hatte schon eine Tochter aus einer vorangegangenen Beziehung. Diese brachte er in die Verbindung zur Adoptivmutter ein. Immer wenn meine Mutter mit ihr gemeinsam unterwegs war musste sie als die ein wenig ältere der beiden auf sie aufpassen. Dieser Mann entsprach dem Klischee des bösen Stiefvaters. Bei Vollmond betrank er sich, kam dann in der Nacht nach Hause, wurde aggressiv und war in Prügellaune. Er schlug sie oft, auch ungerechtfertigter weise, wenn seine Tochter etwas angestellt hatte, und benachteiligte sie wo er nur konnte. Zu den Strafen gehörte auch das Knien auf einem Sack mit rohen Erbsen. Mit ihm begann ihre Adoptivmutter ein Haus in Purkersdorf zu bauen. Als es fast fertig war beschloss er, wieder zu der Mutter seiner Tochter zurück zu kehren. Im Zuge dessen stellt er die gesamten Arbeitsstunden am Haus inklusive Aufstellung mit jeweiligem Datum in Rechnung. Als hätte er das von Anfang an geplant gehabt. So viel Geld war flüssig nicht verfügbar und somit wurde der erste Kredit aufgenommen. Ein fataler Fehler, denn mit dem Wirtschaftsaufschwung brach auch das Geschäft mit den Modezeitschriften ein, was ein späteres, wiederholtes Aufstocken des Kredits unumgänglich machte. Also anstatt die Schulden abzubauen, wurden sie stetig mehr.

Einmal war „der Weidinger“, wie sie ihn bis heute nennt, mit meiner Mutter aus irgendeinem Grund allein im Wald unterwegs. Sie war damals 12 oder 13 Jahre alt. Er nützte die Gelegenheit und betatschte sie anzüglich. Sie ließ es sich gefallen, sagte aber dann, sie würde es verraten, wenn er sie weiter so schlecht behandle. Ab dann war es besser mit ihm. Die Lektion war, dass sie mithilfe ihres begehrenswerten Körpers bei Männern das erreichen kann, was sie will. Mit dieser Erkenntnis ging sie raus in die Welt und stürzte sich in ihr junges Leben. Aber scheinbar nicht so, wie es sich zu dieser Zeit für einen weiblichen Teenager gehörte, denn das Jugendamt wurde auf sie aufmerksam.

Damals war sie jung, wild, ungehorsam und trieb sich schon mit Buben herum. Heutzutage wäre ihr Verhalten ganz normal. Doch die Fürsorge steckte das „schlimme Mädchen“ zur Strafe ins Kloster zum Guten Hirten in Obersiebenbrunn. Ohne Vorankündigung wurde sie in einer Nacht- und Nebelaktion in der Silvesternacht 1957 auf 1958 von der Polizei im Nachthemd abgeholt. Ihre Mutter konnte nichts dagegen tun. Im Erziehungsheim musste sie sechsmal am Tag beten. Eines Tages fiel sie in der Kirche um. Was sie damals nicht wusste: Sie war schwanger, aus der Zeit vor dem Heim. Der Mann, mit dem sie zu dieser Zeit in Beziehung war bekannte sich zu dem Ungeborenen. Er war schon 24 Jahre alt und hatte eine abgeschlossene Lehre. Gemeinsam mit der Adoptivmutter wollte er mit einem Strauß Blumen seine schwangere Freundin besuchen, doch die Verantwortlichen ließen ihn nicht zu ihr. Ihnen wurde gesagt, dass sie beide zu jung für eine Elternschaft wären. Da half es auch nichts, dass sich die Schwiegereltern sogar bereit erklärten, das Kind die ersten Jahre in Pflege zu nehmen. Meiner Mutter wurde der Kontakt zu ihm verboten, und weil nicht klar war, wann sie aus dem Heim entlassen wird, ging die Beziehung in die Brüche.

Doch nicht schon genug des Unglücks, erpressten sie die junge Mutter mit ihrer zuvor geraubten Freiheit. Sie schlugen ihr folgenden Deal vor: Sobald das Baby geboren ist gibt sie es zur Adoption frei und an jenem Tag, an dem neue Eltern gefunden sind, bekommt sie ihre Freiheit zurück und wird nach Hause entlassen. Ein Deal, wie aus der Feder des Teufels, untergebracht war sie aber bei Nonnen. Als 14-Jährige war ihr die Freiheit wichtiger. Sie willigte also ein und musste darüber hinaus noch unterschreiben, dass sie nie Nachforschungen nach ihrem Sohn anstellen würde.

Noch schwanger wurde sie in ein Mütterheim nach Graz gebracht, in dem es strikte Arbeitszeiten gab: 7:30 bis 12 Uhr und 13:30 bis 18 Uhr. Wochenlang strickte sie Pullover. Wenn sie sich beeilte, ging sich einer am Tag aus. Eine Strickwarenfirma ließ die frische Ware abholen. Das ist Zwangsarbeit, wie sie damals für viele jungen Menschen triste, alltägliche Realität war. Für schlechte Kost und Logis. Als Pensionszeiten wurden diese Jahre später nicht angerechnet. Ein Missstand, der bis heute noch von keiner Regierung ausgeräumt wurde.

Sie arbeitete bis zur Entbindung und gleich nach der Geburt ging es weiter. Eine alte Schwester passte auf ihren Buben auf, während sie bügelte, die immer gleiche Naht einer Schürze mit der Maschine steppte oder Taschentücher mit der Hand säumte. Abends nach der Arbeit schaute sie jeden Tag nach ihrem Baby. Doch eines Tages, als er zehn Monate alt war, ist das kleine Bettchen leer. Im ersten Moment ein Schock. Doch gleichzeitig wusste sie, dass sie bald wieder zu Hause bei ihrer Mutter und Großmutter sein würde. Aber das Wiedersehen war von einer beunruhigenden Neuigkeit überschattet. Bei ihrer Mutter war zwischenzeitlich Krebs diagnostiziert worden.

Nach dem Verlust einer Lehre zur Steuerberaterin, weil sie ein Mal am Montag nicht erschienen war, fing sie in einer Textilfabrik in der Färberei an zu arbeiten. Dann las sie von einem Ort in Italien, wo es angeblich eine Klinik gibt, die den speziellen Krebs ihrer Mutter heilen kann. Dafür bräuchte sie aber 5.000 Schilling. Für damalige Verhältnisse ein Vermögen.

Weidinger ganz rechts, seine Tochter ganz links. Adoptivmutter hinter Adoptivoma, rechts daneben meine Mutter
Meine Mutter mit ihrem ersten Sohn

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